Teil II: Darauf / daneben

Dandelion Teil 2

Und immer wieder: Proben

Auf dem Weg zu der Treppe stellten sich viele Fragen, ohne dass man sie beabsichtigt oder auch nur bewusst in das Gedächtnis eingeladen hätte. Diese Fragen standen in ihrer Einfachheit kaum den Antworten nach, nach denen sie alle suchten, nur eben an unterschiedlichen Orten. Manche sahen diesen Ort in einer Bank, die links oder rechts auf der Bühne stand. Manche vorne, manche eher im Hintergrund. Bei wieder anderen verschob sich dieser Ort, und wenn er es tat, dann im Takt eines Liedes. Was alle diese Orte einte, war der Weg dorthin: Egal ob von links oder rechts, der Weg führte immer über die Treppe. Sie war nicht groß, geschwungen, aus Marmor, noch hatte sie irgendwelche barocken Verzierungen und Inschriften, ja noch nicht mal ein Geländer hatte sie. Eine simple Konstruktion und doch mochte man kaum glauben, welche Bedeutung ihr zukam.

Sie führte zum Podium, zu dem, was man Bühne nannte, aber eher einem Tausendfüßler aus Podien glich, die zusammengestellt worden waren. Nur ihre dutzend kleinen Beine zeugten noch von der eher improvisierten Art der Bühne. Es bildete sich also eine Konstruktion aus der kleinen dreistufigen Treppe zum ersten und der eigentlichen Bühne, zu der diese hochführte, zum zweiten. In dieser Konstruktion verbarg sich der Übergang. Diese zweckmäßige Treppe bildete den Steg von Privatsphäre in eine konstruierte Rüstung, die auf dem Weg zur Bühne Stück für Stück angelegt wurde, damit aus dem Menschen eine Figur wurde.

Die Rüstung, die man Rolle nannte, lag schwer auf der Haut. Trug man sie, neigt man dazu, einzuknicken, sich zu verstecken. Man musste sich jede Sekunde ins Gedächtnis rufen, dass die Rüstung der Preis war, den man zahlen musste, um der Angst vor Versagen zu entkommen. Sie versteckte Persönlichkeit und Vorlieben und wog doch das eigene Gewicht hundertfach auf. Auf der ersten Stufe wurden die Stiefel und die Beinpartie angezogen, man verlor Gang, Haltung und Geschwindigkeit, stattdessen drückten die Stiefel schwer gegen die Fersen, man nahm den Gang, den Schritt und die Gestik der Rolle an und konnte nichts dagegen tun. Auf der zweiten Stufe der Treppe kam der Brustpanzer hinzu, danach Handschuhe und Armschoner. Man konnte nur noch schwer atmen, musste dem Druck der Rolle, der Figur nachgeben und wurde erstmals mit dem Erwartungsdruck dessen konfrontiert, was hinter der Treppe wartete. Auf der letzten Stufe setzte man den Helm auf, so gearbeitet, dass er das Sichtfeld einschränkte, der einzig mögliche Blick ging nach vorne, die Augen konnten nicht entkommen. Gleichzeitig verbot er den ausweichenden Blick in die Menge, verhinderte, dass man in unzählige und gespannte Augenpaare blickte. Um nicht erkannt zu werden, hatte man sich maskiert, die Augen geschwärzt, die Wimpern und Lider verfremdet.

Hatte man bald die so unscheinbare Leiter beschritten, war man nicht mehr der Mensch, der einem am Morgen aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Man war in eine künstlich erdachte Figur verwandelt worden. Nichts war mehr übrig von der Anspannung, Aufregung, ja, sogar die Angst prallte nun an der Rüstung der Figur ab.  

Unter den beobachtenden Augenpaaren traten sie in ihren Rüstungen auf die Bühne, verließen sie, formierten sich in Gruppen und Anordnungen neu. So schufen sie alle miteinander ein Blatt Papier, vierdimensional, das sie mit ihren Texten, Gestiken, Haltungen, Bewegungen und Gedanken füllten, stets verdeckt und anonym. Denn jetzt gab es nur noch Rollen und Figuren, eingehüllt in Rüstungen, mit nachtschwarzen Augen. Das Spiel begann…

 

Vincent Held und Frau Kreucher

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