Teil I: Davor - dahinter

Dandelion Teil 1

Mit voller Energie beim Proben

In den schlechteren Momenten tropfte es von der Saaldecke und es war still, so vollkommen still, dass man denken konnte, das Gebäude sei menschenleer. In den besseren Momenten erinnerte die dichte Anordnung der Stühle vor der Bühne an das Ziel, das alle Anwesenden zu erreichen gedachten. Hinter den Vorhängen drangen dann Geräusche durch den Saal, die die Totenstille so völlig karikierten, dass man denken konnte, es fände eine Mitgliederversammlung des örtlichen Rockerclubs statt.

Meistens jedoch blieben diese Extreme allen Anwesenden erspart, immerhin war schon Aristoteles der Ansicht, der Weg zur Glückseligkeit sei in der Mitte zu finden.

Zwar war keiner der Anwesenden Schüler, Lehrer oder Betreuer in seinen Handlungen direkt von Aristoteles inspiriert, dennoch, die zumeist entspannte, wenn bisweilen doch auch konzentrierte Stimmung, war durchaus von Vorteil, auch ohne, dass Aristoteles seine Finger in diesem Spiel gehabt hätte. Immerhin: Noch hatte keiner einem anderen irreparable körperliche Schäden zugefügt, insgeheim hofften auch alle, dass dies so bleiben würde, ein solcher Rückschlag wäre wohl für niemanden aus der Gruppe verantwortbar gewesen. Dem zum Trotze sollte dennoch erwähnt werden, dass diese Unversehrtheit sich ausdrücklich nicht auf das psychische Empfinden bezog und einige noch immer einen erbitterten Kampf gegen den Wahnsinn, dem man zu verfallen drohte, ankämpften.

Seit beinahe zwei Tagen hatten sie sich in diesem Saal einquartiert, der das Herzstück einer Schule darstellte, die nicht ihre eigene war, auf einer Bühne, so voller Möglichkeiten, dass sich sicherlich einige wünschten, sie könnten diese für den Rest der Zeit behalten. Zum Glück hatte die eigene Schule vor wenigen Monaten auch ein neues Herzstück erhalten, wo man bald vermutlich in einen ähnlichen Zustand geraten würde, doch der Tag schien noch unendlich weit entfernt.

Jetzt zeichnete sich erst einmal vor dem Vorhang ab, dass die Stuhlreihen, die unermüdlichen Beobachter ihrer Schindereien und Proben, nun in vielen Teilen besetzt mit Menschen waren: Ein Publikum schickte sich an, mit all seinen Erwartungen, Wünschen und Ansprüchen das Ergebnis derjenigen zu sehen, die dafür einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Zeit geopfert hatten. Hier war es nötig, nun alle Register zu ergreifen, um ihren Erwartungen gerecht zu werden.

Aber was erwarteten sie? Natürlich, wahrscheinlich wollten sie unterhalten werden, Zerstreuung und Abwechslung wollten sie finden. Was, wenn sie dazu am völlig falschen Ort gelandet waren? Hinter den samtroten Vorhängen zumindest war weder etwas von Unterhaltung, noch von Zerstreuung zu spüren, viel eher eine Stimmung, die das Gegenteil dessen verkörperte, was das Publikum erwartete. Die zukünftigen Schauspieler standen vor ihrer Feuertaufe mit Zetteln und Mappen in der Hand, auf denen Dialoge, Zeilen und Einsätze vermerkt waren, ganz zu schweigen von Mimik, Gestik und den Feinheiten der Intonation. In ihren Köpfen wartete ein Regelwerk, das zu durchschauen sie allesamt etliches an Mühe gekostet hatte, darauf, dass es nun endlich zu seinem Einsatz kommen würde. Eine Nichtbeachtung all dessen hätte unabsehbare Folgen für das Prestige und das Vertrauen jedes einzelnen, schlimmer noch, für das eigene Selbstbewusstsein. Immerhin stand man plötzlich im Rampenlicht, oder würde es, wenn aus dem Nirgendwo das Zeichen für die Vorhänge kam, sich voneinander zu lösen, um den Platz für einen völlig schwarzen Raum zu enthüllen, die Bühne des Abends.

Pünktlich, viel zu pünktlich glitten die Vorhänge auseinander und machten den Blick frei für das, was kommen sollte…

Vincent Held und Frau Kreucher

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