NS-Zeitzeugen zu Besuch am EMG

Ein Name oder doch nur eine Nummer?

Anna Szafraniec erzählt ihre Leidensgeschichte, Max Katarynczuk (r.) übersetzt aus dem Polnischen

„Ich wohne noch heute in demselben Haus, wo ich geboren wurde.“ Mit Trauer, jedoch auch mit Stolz erlebten wir Anna Szafraniec, geboren am 18. Oktober 1936, eine von sechs Zeitzeugen, die unsere Einführungsstufe am 9. Juni 2016 besuchten. Es war der zehnte Besuch einer Gruppe von NS-Opfern vermittelt über das Maximilian-Kolbe-Werk und die Religionslehrerin Anne Präder.

Genau sechs Jahre alt war Anna Szafraniec, als die Gestapo sie am 13 August 1943 von ihrer Heimat trennte. Kurz zuvor erlebte sie Verheerendes in ihrem Elternhaus. Ihr Vater, ein Bergmann aus der Kohlemine in Czeladz, zugleich auch ein Mitglied der Geheimorganisation „Weißer Adler“, engagierte sich gegen den NS-Terror. Dieser war zur Zeit der Besetzung ihres Eigentums nicht vor Ort. Anna sah ihren Vater ab diesem Zeitpunkt nie wieder.

Größere Schulgebäude dienten als eine Sammelstelle für Gefangene wie Anna, ihre Schwester und ihre Mutter. Die Angst ihrer Mutter, beide Töchter zu verlieren, war sehr groß, als alle Gefangene zur Sammelstelle kommen mussten. Von dort brachte man sie zum Untersuchungsgefängnis nach Myslowice. Anna und ihre Schwester wurden von ihrer Mutter getrennt und in ein Kinderlager gebracht. Die Mutter wurde nach Auschwitz deportiert.

Die heute 80jährige Anna Szafraniec erzählte dem Erdkundekurs von Frau Lauscher, wie dankbar sie ihrer vor acht Jahren verstorbenen älteren Schwester ist. Sie nahm für Anna die Mutterrolle ein, war fürsorglich und verantwortungsvoll. Beide wurden in verschiedenen Lagern in Polen interniert (Myslowice, Pogrzebin, Male Gorzyce, Bogumin und nach Potulice).

Anna Szafraniec beschrieb den Schülerinnen und Schülern die schlechten Lebensbedingungen in den Kinderlagern, vor allem im Polenlager Bogumin. Auf engem Raum gab es mehrere Hochbetten, jeweils zwei Kinder in einem Bett. Zudem waren die Kinderlager nicht vor Ungeziefer sicher.

Die älteren Kinder sollten für etwas „nützlich“ sein und waren somit gezwungen, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Während des zweijährigen Aufenthalts in den Kinderlagern machten Anna und ihre Schwester viele Erfahrungen mit dem Tod anderer Kinder. Es waren die schlimmsten und unvergesslichsten Erinnerungen von Anna Szafraniec.

Neben den meisten Kinderlagern gibt es noch heute (Massen-) Friedhöfe mit mehr als 500 Gräbern, bei denen jeweils drei Kinder in einem Grab liegen. „Grund für das Sterben der Kinder waren Hunger, Krankheit und Kälte“, erzählt sie mit Tränen in den Augen.

„Meine einzige Hoffnung, dass alles wieder gut wird, sah ich nur durch den Einsatz meiner Schwester in meinem Lager, da auch wir in verschiedene Räume eingeteilt wurden“, erklärte uns Anna.

Beide wussten, dass sie ihre Eltern nie mehr sehen würden. Die Mutter bekam die Nummer 54664 und starb am 01.02.1944 in Auschwitz. Etwa zur gleichen Zeit wurde ihr Vater am 09.03.1944 in das Konzentrationslager Mauthausen deportiert und erhielt die Nummer 56330. Die Gefangenen wurden hauptsächlich mit den Nummern angesprochen. Nach ungefähr zwei Monaten, am  8. Mai 1945, exakt ein Jahr vor der deutschen Kapitulation, wurde er dort erschossen.

Nach zwei Jahren Aufenthalt in den verschiedenen Lagern wurden Anna, ihre Schwester und die anderen Kinder mithilfe der russischen Soldaten befreit (Januar 1945). Sie kehrten mit schlechten Erinnerungen zurück in ihre Heimat. Aufgrund der Ermordung beider Elternteile wurden Anna und ihre Schwester von ihrer Großmutter erzogen. Anna wurde wegen der schlechten Lebensbedingungen sehr krank und verlor zum Teil auch ihre Haare. Mit neun Jahren wurde sie sie in ein Krankenhaus in Dänemark gebracht, zu diesem Zeitpunkt wog sie zwölf Kilogramm.

Die späte Einschulung und die Einschränkungen ihres Gesundheitszustands waren der Grund, warum Anna mehr Zeit für Schule und Studium brauchte als andere gesunde Kinder. Allerdings absolvierte sie die Grundschule und anschließend das Gymnasium für Pädagogik. Die Angst ihrer Großmutter, sie würde bei ihrem Tod ihre Enkel bald alleine zurücklassen, führte zur frühen Heirat beider Schwestern. Anna heiratete 1957 und bekam einen Sohn und eine Tochter.

Die heute verwitwete Anna Szafraniec erzählte uns von den Höhe- und Tiefpunkten ihres Lebens. Der Kurs von Frau Lauscher war erstaunt und zugleich auch geschockt, was sie und andere Kinder unter dem NS-Regime erleben mussten.

„Ich engagiere mich seit Jahrzehnten ehrenamtlich in verschiedenen Häftlingsvereinen und Verbänden, damit jeder Bescheid weiß, dass am meisten die Kinder gelitten haben. Ich bin eine von wenigen der Überlebenden aus meiner Generation und ich möchte, dass solch ein Ereignis nicht mehr in der Geschichte vorkommt“, sagte sie abschließend in die Runde und bedankte sich herzlich für die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler der EF.

Nurdan Yildiz & Yildiz Yildiz

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